Z E I T E N E N D E

Schlagwort: Aufklärung

Land der Tugend

Eine Reflexion über Unbestechlichkeit in der Moderne

Das chinesische Wort für Deutschland bedeutet übersetzt: Land der Tugend.

Die sogenannten Deutschen Tugenden, das ist nicht nur Fleiß, nein, auch Wahrhaftigkeit, Mut, Disziplin und insbesondere Unbestechlichkeit führen derzeit — in der Zeitenwende — ein Schattendasein. Verrückt, dass ausgerechnet kriegerische Politiker in ihrer Werbung für Kriegstüchtigkeit die im Grunde zeitlose Attraktivität der Tugenden missbrauchen für ihre geopolitische Agenda, denn diese Politiker sind gerade ein Musterbeispiel für Bestechlichkeit, Verlogenheit und Disziplinlosigkeit. Als die Moderne in den American Way of Life mündete, in „Genuss ohne Reue“, in „Carpe Diem“, in „nach mir die Sintflut“, in „wenn ich’s nicht mache, macht’s ein anderer“, ersetzte in dieser modernen Beliebigkeit fortan der erzielbare Genuss den Schweiß im Angesicht. Nur der Krieg scheint mit Blood, Sweet and Tears die Tugenden zu erzwingen. Das wäre allerdings das größte denkbare Missverständnis. Denn der Krieg ist das Ergebnis von Untugend und bringt jede Untugend zu ihrer äußersten Ausformung.


Ich sag es gleich: Ich bin ein Fäään von Lafontäään. Lafontaine hat damals, bei seiner Kanzlerkandidatur 1990, den Deutschen die Wahrheit über die Kosten des Anschlusses der Ost-Länder gesagt. Das wollte aber niemand hören – sie wollten die „schnelle Mark“. Kohls Wechselkursangebot Eins-zu-Eins hat die Ostdeutschen bestochen und somit indirekt die im Grundgesetz vorgesehene Möglichkeit einer neuen Verfassung, die Lafontaine bevorzugt hätte, zum Scheitern verurteilt. Lafontaine, dessen bundespolitische Laufbahn mit der Verehrung Willy Brandts begann, wäre der Richtige gewesen, die Friedensdividende von Brandts Ostpolitik in unumkehrbare Formen zu gießen. Weil er, wie Brandt, Bestechlichkeit verachtete. Dafür, dass er reinen Wein einschenkte, wurde er bestraft – die 90er wurden zum Parforceritt der neoliberalen Bestechlichkeit.

Die vergessene Kultur der Verehrung

In asiatischen Gesellschaften – ich kenne mich nur mit der indischen und der tibetischen etwas aus – findet man noch so etwas wie die Verehrung der Älteren. Das alleine klingt in den westlichen, aufgeklärten Gesellschaften schon idiotisch, wenn nicht gar zurückgeblieben. Im Gegensatz zu unserer Fan-Kultur, in der wir für Stars jedweder Art, seien es Sportler, Künstler oder Politiker, nur Bewunderung übrig haben, gibt es dort die „Ehre“ noch, die im Westen in der sogenannten Aufklärung auf der Strecke geblieben ist. Bei dem Wort „Ehre“ denken wir an die alten Rittersleute, Duelle, Orden, „Jubelperser“ und die Weltkriege, in denen Ehre und Vaterland zusammen mit Nationalismus und Exzeptionalismus den Boden düngten, auf dem diese Kriege erst möglich wurden.

„Du sollst Vater und Mutter ehren“ – die tiefe Weisheit dieses Ratschlags aus den „Zehn Geboten“ wird hierzulande zusammen mit den christlichen Kirchen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Dabei hat das Konzept der „Verehrung“ nur positive Aspekte, sowohl für den Verehrten als auch für den Verehrenden. Jede Art von Ehre ist untrennbar mit Tugenden verbunden, die sich in jeder Gesellschaft herausbilden, denn nur wenn ein gewisses Maß an Tugenden in der Gesellschaft blüht und gedeiht, kann sich jedes Mitglied wohlfühlen und hat Lust, in seiner Funktion gedeihlich am Allgemeinwohl mitzuwirken.

Der Verehrende fühlt etwas Heiliges im Angesicht der Weisheit eines Älteren, dessen Vorbild er nachstreben will, weil dieser mit seiner ganzen Person, mit Körper, Sprache und Geist für eine Tradition steht, die das Wohl der Gesellschaft seit Alters her sichert und beschützt. Er sieht sich als Schüler, der vom verehrten Lehrer nicht nur Wissen und Fähigkeiten erwirbt, um im Lebenskampf zu bestehen, sondern auch – und vor allem – eine Weltanschauung, eine Lebensphilosophie, ein Menschenbild, das ihm ermöglichen soll und wird, glückliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzunehmen.

Um dieses Gefühl der Verehrung, dieses durch und durch positive Gefühl, aufzubauen, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein. Der verehrte Lehrer muss ein guter Mensch sein, das heißt, er muss seinen Egoismus, seinen Narzissmus vollkommen aufgegeben haben, was der Schüler im direkten Umgang jederzeit feststellen kann – der Lehrer antwortet auf Beleidigungen, Schmähungen oder böswillige Schädigungen nicht mit Hass und Selbstbehauptung, sondern agiert geschickt und besänftigend – was dem Schüler nicht nur Bewunderung abnötigt, sondern eben auch das heilige Gefühl der Verehrung aufsteigen lässt.

Der Verehrte muss durch alle menschlichen Höhen und Tiefen gegangen sein, um diese Unerschütterlichkeit zu erreichen. Das Wohl aller Wesen ist ihm höchste Maxime. Er weiß, dass nur diese Haltung auch sein eigenes Lebensglück bedingt und dass er nur dadurch am Ende seines Lebens zufrieden und entspannt die Augen schließen kann. Denn er hat seinen Auftrag erkannt und bestmöglich ausgeführt.

In den genannten asiatischen Gesellschaften ist der „Guru“, zu deutsch „Lehrer“, ein fester Bestandteil des täglichen Umgangs. Die Gesten der Verehrung – „betende Hände“ als Begrüßung (Namaskaar, Namaste), Verbeugung, Niederwerfung – sind nicht Zeichen der Unterwerfung, sondern der Verehrung. Der Guru verbeugt sich ebenfalls, wirft sich genauso nieder wie der Schüler: er hat den göttlichen Ursprung aller Wesen erkannt.

Vom Geistwesen zur Konsummaschine

Was heute als Moral gilt, ist oft nur der Versuch, anderen die eigenen Maßstäbe von Gut und Böse aufzuzwingen. Zwischen einer solchen herrschenden Moral und authentischem Gutsein klafft jedoch ein Abgrund.

Leider muss man sagen, dass auch im ferneren Osten die Grenze zwischen Unterwerfung und Verehrung ins Rutschen, ins Fließen gekommen ist. Es ist schon erstaunlich genug, dass es Gesellschaften gibt, die nur durch Herzensbildung ihrer Mitglieder, fast ohne Zwang, ein friedliches, lustvolles und kreatives Leben ermöglichen – die Versuchung des Egoismus, des Lügens, Stehlens, Intrigierens usw. ist grundsätzlich sehr stark, das weiß jeder, der einmal ein Volks-Theaterstück von Johann Nestroy erlebt hat –, aber seit dem Aufkommen des Materialismus im Zuge der europäischen Aufklärung, die den Menschen nicht mehr als Entdecker und Bewahrer ewiger Werte sieht, die nur durch Entwicklung jener Tugenden bewahrt werden können, sondern als soziale Bedürfnis-Maschine, die gut geölt sein will, gilt die Anfachung und Lenkung des Konsums als Ultima Ratio der politischen Klasse.

Der Mensch ist im materialistischen, naturwissenschaftlich gestützten Weltbild kein Geistwesen mehr, dessen Geist in höchster Selbsterkenntnis ein Spiegel des Heiligen Geistes ist, sondern ein Herdentier, ein Säugetier. Die Elite sieht ihre Aufgabe darin, durch „artgerechte Menschenhaltung“ (s. Franz M. Wuketits 2012) eine gewisse Zufriedenheit der Bevölkerung sicherzustellen. Durch die Unwiderstehlichkeit des „American Way of Life“ in der Globalisierung gilt dies inzwischen nicht nur für die westlichen Völker und ihre Eliten, die durch ungeheuren Fortschritt in Technik und Wissenschaft reich und mächtig geworden sind, sondern auch für tausendjährige Kulturen, deren Stabilität sich auf Einfachheit, Wahrheit, Schönheit gründete, welche unmittelbar ein Ausfluss jener Tugenden war, die die Älteren den Jüngeren, die Lehrer den Schülern, die Wissenden den noch Unwissenden beibrachten.

Die artgerechte Menschenhaltung beruht zuallererst auf Bestechlichkeit. Im Kapitalismus ist vor allem der bestechliche Bürger ein guter Bürger. Aus Sicht des Kapitals ist vor allem der bestechliche Politiker ein guter Politiker. Ist diese Denkweise — Zuckerbrot — allgemein akzeptiert, kann auf die Peitsche verzichtet werden, die behält man für Notfälle, für den Ausnahmezustand, in der Schublade. Die artgerechte Menschenhaltung kann elegant über Geldfluss – Meinungsmanagement, kognitive Kriegführung – gesteuert werden. Diese selbsternannten Eliten, für die Kardinaltugenden Schnee von gestern sind und bestenfalls für Sonntagsreden taugen, definiere ich wie folgt: sie verfügen über Banklizenzen, also das Monopol der Geldschöpfung, und das wird ihnen so leicht kein Habenichts oder Bitcoin-Apologet aus der Hand schlagen.

Lafontaine gegen Fischer: Unbestechlichkeit gegen Opportunismus

Lafontaine war aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich erinnere mich lebhaft an seine Fernsehduelle mit Heiner Geißler im Zuge seiner Kanzlerkandidatur 1990. Auch Heiner Geißler war aus einem anderen Holz geschnitzt. Geißler hatte bei den Jesuiten, einem katholischen Elite-Orden, Lafontaine in einer katholischen Klosterschule bzw. dem bischöflichen Cusanuswerk Bestechlichkeit verachten gelernt. Man kann über die Jesuiten sagen, was man will, aber die Kardinaltugenden standen hoch im Kurs. Joschka Fischer hingegen, wie ich Jahrgang 1948, der Lafontaine einmal als den intelligentesten Politiker bezeichnete, dem er je begegnet sei – da war er mit ihm in der Regierungskoalition –, ist für mich das Paradebeispiel für schmierige Bestechlichkeit: in einem Fernseh-Zweiteiler, der den Ehrgeiz hatte, ihm auf den Grund zu gehen, schaffte er es, seine schmierige Bestechlichkeit zuzugeben und gleichzeitig als bewundernswerte Charaktereigenschaft eines „Großen“ auszugeben.

Was die Bestechlichen – ich meine nicht die Erpressten, nicht diejenigen, die sich Unbestechlichkeit schlicht nicht leisten können –, und noch mehr die Lügner und Betrüger, immer unterschätzen, ist, dass ihre intriganten Strategien, von denen sie glauben, dass sie für ihren Erfolg unabdingbar sind, ihr Selbstwertgefühl untergraben. Das Selbstwertgefühl, der Parameter für psychische Gesundheit Nummer eins, geht baden. Jede Lüge schwächt das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und das Vertrauen in das Leben schlechthin. Warum sollte ein authentischer Mensch voller Selbstvertrauen lügen? Lediglich das Vertrauen in die eigene diabolische Intelligenz wird gestärkt. In dem Maße, wie das zweite Vertrauen das erste, das auf den Tugenden beruht, ersetzt, entwickelt sich eine narzisstische, manipulative Persönlichkeit, die zwar über hohe Intelligenz verfügen kann – der Schurke im James-Bond-Film ist immer hochintelligent –, aber die Verzweiflung über die eigene Schlechtigkeit, die sich nie ganz verdecken lässt, muss zunehmend durch Machterwerb kompensiert werden. Der Mächtige kann nicht ganz falsch liegen, Gott scheint mit ihm im Bunde zu sein.

Trauma als Schlüssel zum Verständnis

Aber da liegt er ganz falsch. Er ist mit Luzifer im Bunde! Mit Mephisto! Gerade wir Deutsche, denen Goethes Faust in die Wiege gelegt wurde, müssen über Bestechlichkeit noch mal neu nachdenken. Und darüber, ob der Mangel an Selbstachtung, Selbstvertrauen und Vertrauen schlechthin nicht schon viel früher eingesetzt hat. Wie viele von uns wurden schon in der Kindheit durch Lieblosigkeit und Misstrauen traumatisiert? Es handelt sich um eine massenhafte psychische Störung mit Wiederholungszwang. Eine verzerrte, negative Wahrnehmung der sozialen Umwelt ist die Folge. Wenn ich mich beim Lügen und Betrügen ertappe und den anderen, den „Feinden“, die Schuld gebe, sollte ich einen Moment innehalten und mich fragen, ob ich selbst ein Teil des Problems bin.

In der Zeitenwende, in der wir uns befinden, in diesem Epochenbruch, wird es darauf ankommen, wie viele Menschen erkennen, dass in der Krise eine fundamentale Entscheidung gefordert ist: will ich Teil des Problems oder Teil der Lösung sein? Mit jeder Lüge und Selbstlüge zementiere ich mich als Teil des Problems. Habe ich den Mut, mich auch schmerzhaften Wahrheiten zu stellen? Für Schopenhauer war die Neigung des gewöhnlichen Menschen zum Betrug und Selbstbetrug unausrottbar. Aber er kannte die heutige Trauma-Therapie-Forschung nicht.

Teil der Lösung werden

Also: nur Mut! Lasst uns Teil der Lösung sein! Wann immer wir Bestechlichkeit, Betrug, Raffgier, Feindseligkeit begegnen, verstehen wir das als Trauma-Folgen und nehmen es als Herausforderung, unser eigenes Trauma der Ungeliebtheit ad acta zu legen, indem wir der Wahrheit die Ehre geben. Auch wenn sie schmerzlich ist. „Lügen brüten Unheil, Wahrheit macht gesund“! So der Titel eines Kapitels in „The Gift of the Spirit“, Prentice Mulford 1898.

Die narzisstischen Lügengebäude führen in die ausuferndste aller psychischen Krankheiten: die Paranoia. Das charakteristische — und tragische — daran: sie ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Krankhaftes Misstrauen führt zu Handlungen, die Reaktionen provozieren, die wiederum das Misstrauen gerechtfertigt erscheinen lassen. Der Ausgangspunkt ist fehlende Selbstachtung und allgemeines Misstrauen. Das Drama nimmt seinen Lauf. Am Ende bringen sich alle gegenseitig um. Ungezählte Theaterstücke und Krimis, die einen warnend, die anderen lakonisch, schlagen uns damit in ihren Bann. Der erste Schritt als Teil der Lösung wäre, keine Eintrittskarte mehr zu lösen, wenn aus diesem Theaterstück Ernst wird. Wenn nicht mehr mit Platzpatronen geschossen wird. Weil Paranoia ansteckend ist, sollte man sich fernhalten. Ein Meter fünfzig reicht nicht.

Wir sind vielleicht viele, die so denken. Im Ernstfall folgen wir dem Ratschlag Ernst Jüngers und treffen uns im Wald. Dort werden wir uns daran erinnern, dass es einmal Politiker wie Lafontaine gab, die Bestechlichkeit verachteten. Und vielleicht werden wir erkennen, dass nicht er gescheitert ist, sondern eine Zeit, die seine Tugenden nicht zu schätzen wusste. Das ‚Land der Tugend‘ wartet darauf, wiederentdeckt zu werden.

ein Moment der Liebe

Ein Krankenhausbett, ein Tropf, Langeweile. In der Patientenbibliothek wartet Martin Walsers „Ein Augenblick der Liebe“ – und mit ihm die Entdeckung eines Philosophen, der vor 200 Jahren genau jene Gedanken entwickelte, die einen elfjährigen Messdiener aus dem Schwarzwald einst zum Ketzer machten. Eine Geschichte über die Befreiung von Schuld, die Illusion des freien Willens und warum am Ende doch die Liebe siegt.

Mit einem schlimmen Fuß kam ich ins Krankenhaus, man hängte mich an einen Tropf.

Schon am nächsten Tag wurde mir langweilig.

Den Tropfer hinter mir herziehend, streifte ich durch die Gänge und entdeckte die Patientenbibliothek.

Ein einziges Buch konnte ich nicht auf Anhieb als Schund identifizieren, nämlich Martin Walsers „Ein Augenblick der Liebe“. Es leuchtete mir entgegen, war wie neu und unberührt wie ein Baby.

Beim Lesen stieß ich zum ersten Mal auf den Namen Julien Offray de La Mettrie, ein Philosoph, der genau 200 Jahre vor meiner Geburt geboren ist und genau die gleichen Gedanken entwickelt hat zum Thema Schuld und freier Wille, wie ich sie schon als Kind bzw. als Jugendlicher unabweisbar entwickelt hatte. Genau wie er stieß ich damit in meiner Umwelt auf entrüstete Ablehnung. 

Da jegliche ernstzunehmende Wissenschaft, alleine mit der Methode der Falsifikation, von lückenloser Notwendigkeit, von Kausalität ohne Ausnahme ausgeht, und der Mensch als empirisches Untersuchungsobjekt  keine Ausnahme darstellt, kann es in einem aufgeklärten Menschen- und Weltbild – objektiv – keinen freien Willen geben.

Als elfjährigem Messdiener, aufgewachsen in einem erzkatholischen Haus im Nordschwarzwald, wuchsen mir diese verdammten katholischen Schuldgefühle immer mehr über den Kopf und drückten mich nieder in eine Stimmung der Selbst-Geißelung und Verzweiflung über mich selbst, in der meine Gedanken unablässig nach einem Ausweg aus dieser drohenden Vernichtung der Selbstachtung suchten. In einem bestimmten Augenblick kam mir ein Gedanke, der mir zunächst unerhört erschien, geradezu obszön, weil er die ganze Schuld mit einem Schlag hinwegfegte; ich weiß noch genau, wo ich diese bahnbrechende Erkenntnis hatte, ich bin am Meister-Erwin-Denkmal vorbeigegangen. Meister Erwin, ebenfalls ein Sohn Steinbachs bei Bühl in Baden, gilt als der Erbauer des Straßburger Münsters. Ich bin ein paar Häuser neben seinem Geburtshaus geboren und aufgewachsen.

Als ich auf die Welt kam, war ich als neugeborenes Baby vollkommen unschuldig, weder konnte ich für die Umwelt etwas, in die ich hineingeboren war, noch für mich selbst, so wie ich in dem Moment war.

Sehen wir mal von der Erbsünde ab, die ja doch wohl ein Musterbeispiel für eine metaphysische, geradezu antiaufklärerische  Konstruktion darstellt.

Eine Sekunde später hat sich, durch die Wechselwirkung von Baby und Umwelt, das Baby entwickelt, die Umwelt hat sich entwickelt, aber es ist kein Punkt erkennbar, an dem Schuld entsteht. Null plus Null bleibt Null. Nach einer Sekunde ist das Baby immer noch genauso unschuldig, weil es als etwas, für das es nichts kann, interagiert hat mit einer Umwelt, für die es ebenfalls nichts kann.

Und wenn das für die erste Sekunde gilt, gilt das für alle weiteren Sekunden auch.

Dieser Gedanke ist bei mir eingeschlagen wie eine Bombe und ich habe in den folgenden Tagen und Wochen versucht, jemanden zu finden, mit dem ich darüber diskutieren konnte, aber ich habe keinen gefunden, der sich nicht einfach nur mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt hat.

Ich wusste nicht, dass ich mich damit im Fahrwasser von Julien Offray de La Mettrie  (1709-1751) bewegte, der am Beginn der Epoche der Aufklärung in einer Zeitenwende als Denker unterwegs war, die bald in die französische Revolution und napoleonischen Kriege mündete. Ich bin geneigt, die heutige Zeitenwende als Abgesang und Schlusspunkt der sogenannten europäischen Aufklärung zu sehen.

Die Vertreter des Transhumanismus sehen sich in der aktuellen Zeitenwende als die wahren Erben von La Mettrie. Der Mensch als Maschine, deren Ersatzteile man beliebig auswechseln kann, vielleicht sogar soweit, dass er nur noch Maschine ist und trotzdem ein bewusstes Lebewesen! Diese Vision wird von manchen Anhängern des Transhumanismus geradezu frenetisch begeistert, von manchen auch eiskalt proklamiert.

Da hat man aber einen essentiellen Punkt der aufklärerischen Gedanken übersehen, nämlich den, der im §1 unseres deutschen Grundgesetzes Eingang gefunden hat: die Würde des Menschen — dass jeder Mensch, im Grunde genommen sogar jedes Lebewesen, das gleiche Recht hat auf Leben und Teilhabe und Glück.

Und dass der darwinsche endlose Krieg des Survival of the Fittest nur eine Lern-Aufgabe darstellt, die uns klar machen soll, dass Kampf und Krieg grundsätzlich das Gegenteil von glücklich sein bedeuten. Das Ego kann nicht glücklich sein. Höchstens befriedigt. Es ist grundsätzlich unbefriedigt. Der Kampf ums Überleben erscheint sinnlos, wenn klar wird, dass der letzte Kampf mit absoluter Sicherheit verloren wird. Angst und Gier sind Leitplanken, die uns nicht in den sicheren Tod lenken sollen sondern auf den Weg hin zum universellen Prinzip der Liebe, etwas, das in dem Roman von Martin Walser unter anderem durch einen Aufsatz des Protagonisten mit dem Titel »Alles Eins« bezeichnet wird.

Nach Hermann Hesse, nach den Hippies, nach Osho, nach New Age, ist das Wassermann-Zeitalter jetzt angebrochen oder nicht?

Es wird doch immer klarer, dass die Zeitenwende, in der wir uns jetzt befinden, uns auffordert, unser ganzes Sinnen und Trachten auf die Aufgabe zu richten, wie wir wahrhaft Liebende werden können. Kampf und Krieg wird uns ins Verderben führen. In den Untergang.

In dieser Zeitenwende wird der künftige, liebende Mensch zunächst erkennen, dass kein Subjekt ohne Objekt existieren kann, dass auch kein Objekt ohne Subjekt existieren kann, dass beide separat überhaupt nicht existieren, dass vielleicht in der Berührung von Subjekt und Objekt, in der Wahrnehmung, in der Berührung von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen, die in dem Moment dasselbe sind, untrennbar im Moment der Wahrnehmung, dass in jedem beliebigen Zeitpunkt des Bewusstseins es nicht zwei gibt, sondern nur eins.

Das wird ein Moment der Liebe sein.

Das wird eine Erweiterung des begrenzten Bewusstseins hin zum unbegrenzten Bewusstsein.

Wenn zwei sich zusammentun, damit ein Neues entsteht, damit Eines entsteht, dann ist es immer ein Moment der Liebe.