„Lügen brüten Unheil, Wahrheit macht gesund“. Prentice Mulford in „The Gift of the Spirit“ 1898
Ein Essay über Unbestechlichkeit in der Moderne
Lafontaine hat damals, bei seiner Kanzlerkandidatur 1990, den Deutschen die Wahrheit über die Kosten des Anschlusses der Ost-Länder gesagt. Das wollte aber niemand hören – sie wollten die „schnelle Mark“. Kohls Wechselkursangebot Eins-zu-Eins hat die Ostdeutschen bestochen und somit indirekt die im Grundgesetz vorgesehene Möglichkeit einer neuen Verfassung, die Lafontaine bevorzugt hätte, zum Scheitern verurteilt. Lafontaine, dessen bundespolitische Laufbahn mit der Verehrung Willy Brandts begann, wäre der Richtige gewesen, die Friedensdividende von Brandts Ostpolitik in unumkehrbare Formen zu gießen. Weil er, wie Brandt, Bestechlichkeit verachtete. Dafür, dass er reinen Wein einschenkte, wurde er bestraft – die 90er wurden zum Parforceritt der neoliberalen Bestechlichkeit.
In asiatischen Gesellschaften – ich kenne mich nur mit der indischen und der tibetischen etwas aus – findet man noch so etwas wie die Verehrung der Älteren. Das alleine klingt in den westlichen, aufgeklärten Gesellschaften schon idiotisch, wenn nicht gar zurückgeblieben. Im Gegensatz zu unserer Fan-Kultur, in der wir für Stars jedweder Art, seien es Sportler, Künstler oder Politiker, nur Bewunderung übrig haben, gibt es dort die „Ehre“ noch, die im Westen in der sogenannten Aufklärung auf der Strecke geblieben ist. Bei dem Wort „Ehre“ denken wir an die alten Rittersleute, Duelle, Orden, „Jubelperser“ und die Weltkriege, in denen Ehre und Vaterland zusammen mit Nationalismus und Exzeptionalismus den Boden düngten, auf dem diese Kriege erst möglich wurden.
„Du sollst Vater und Mutter ehren“ – die tiefe Weisheit dieses Ratschlags aus den „Zehn Geboten“ wird hierzulande zusammen mit den christlichen Kirchen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Dabei hat das Konzept der „Verehrung“ nur positive Aspekte, sowohl für den Verehrten als auch für den Verehrenden. Jede Art von Ehre ist untrennbar mit Kardinaltugenden verbunden, die sich in jeder Gesellschaft herausbilden, denn nur wenn ein gewisses Maß an Tugenden in der Gesellschaft blüht und gedeiht, kann sich jedes Mitglied wohlfühlen und hat Lust, in seiner Funktion gedeihlich am Allgemeinwohl mitzuwirken.
Der Verehrende fühlt etwas Heiliges im Angesicht der Weisheit eines Älteren, dessen Vorbild er nachstreben will, weil dieser mit seiner ganzen Person, mit Körper, Sprache und Geist für eine Tradition steht, die das Wohl der Gesellschaft seit Alters her sichert und beschützt. Er sieht sich als Schüler, der vom verehrten Lehrer nicht nur Wissen und Fähigkeiten erwirbt, um im Lebenskampf zu bestehen, sondern auch – und vor allem – eine Weltanschauung, eine Lebensphilosophie, ein Menschenbild, das ihm ermöglichen soll und wird, glückliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzunehmen.
Um dieses Gefühl der Verehrung, dieses durch und durch positive Gefühl, aufzubauen, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein. Der verehrte Lehrer muss ein guter Mensch sein, das heißt, er muss seinen Egoismus, seinen Narzissmus vollkommen aufgegeben haben, was der Schüler im direkten Umgang jederzeit feststellen kann – der Lehrer antwortet auf Beleidigungen, Schmähungen oder böswillige Schädigungen nicht mit Hass und Selbstbehauptung, sondern agiert geschickt und besänftigend – was dem Schüler nicht nur Bewunderung abnötigt, sondern eben auch das heilige Gefühl der Verehrung aufsteigen lässt.
Der Verehrte muss durch alle menschlichen Höhen und Tiefen gegangen sein, um diese Unerschütterlichkeit zu erreichen. Das Wohl aller Wesen ist ihm höchste Maxime. Er weiß, dass nur diese Haltung auch sein eigenes Lebensglück bedingt und dass er nur dadurch am Ende seines Lebens zufrieden und entspannt die Augen schließen kann. Denn er hat seinen Auftrag erkannt und bestmöglich ausgeführt.
In den genannten asiatischen Gesellschaften ist der „Guru“, zu deutsch „Lehrer“, ein fester Bestandteil des täglichen Umgangs. Die Gesten der Verehrung – „betende Hände“ als Begrüßung (Namaskaar, Namaste), Verbeugung, Niederwerfung – sind nicht Zeichen der Unterwerfung, sondern der Verehrung. Der Guru verbeugt sich ebenfalls, wirft sich genauso nieder wie der Schüler: er hat den göttlichen Ursprung aller Wesen erkannt.
Leider muss man sagen, dass auch im ferneren Osten die Grenze zwischen Unterwerfung und Verehrung ins Rutschen, ins Fließen gekommen ist. Es ist schon erstaunlich genug, dass es Gesellschaften gibt, die nur durch Herzensbildung ihrer Mitglieder, fast ohne Zwang, ein friedliches, lustvolles und kreatives Leben ermöglichen – die Versuchung des Egoismus, des Lügens, Stehlens, Intrigierens usw. ist grundsätzlich sehr stark, das weiß jeder, der einmal ein Volks-Theaterstück von Johann Nestroy erlebt hat –, aber seit dem Aufkommen des Materialismus im Zuge der europäischen Aufklärung, die den Menschen nicht mehr als Entdecker und Bewahrer ewiger Werte sieht, die nur durch Entwicklung jener Kardinaltugenden bewahrt werden können, sondern als soziale Bedürfnis-Maschine, die gut geölt sein will, gilt die Anfachung und Lenkung des Konsums als Ultima Ratio der politischen Klasse. Der Mensch ist im materialistischen, naturwissenschaftlich gestützten Weltbild kein Geistwesen mehr, dessen Geist in höchster Selbsterkenntnis ein Spiegel des Heiligen Geistes ist, sondern ein Herdentier, ein Säugetier. Die Elite sieht ihre Aufgabe darin, durch „artgerechte Menschenhaltung“ (s. Franz M. Wuketits 2012) eine gewisse Zufriedenheit der Bevölkerung sicherzustellen. Durch die Unwiderstehlichkeit des „American Way of Life“ in der Globalisierung gilt dies inzwischen nicht nur für die westlichen Völker und ihre Eliten, die durch ungeheuren Fortschritt in Technik und Wissenschaft reich und mächtig geworden sind, sondern auch für tausendjährige Kulturen, deren Stabilität sich auf Einfachheit, Wahrheit, Schönheit gründete, welche unmittelbar ein Ausfluss jener Kardinaltugenden war, die die Älteren den Jüngeren, die Lehrer den Schülern, die Wissenden den noch Unwissenden beibrachten.
Dies scheint weltweit vorbei. Die artgerechte Menschenhaltung beruht zuallererst auf Bestechlichkeit. Im Kapitalismus ist vor allem der bestechliche Bürger ein guter Bürger. Aus Sicht des Kapitals ist vor allem der bestechliche Politiker ein guter Politiker. Ist diese Denkweise — Zuckerbrot — allgemein akzeptiert, kann auf die Peitsche verzichtet werden, die behält man für Notfälle, für den Ausnahmezustand, in der Schublade. Die artgerechte Menschenhaltung kann elegant über Geldfluss – Meinungsmanagement, kognitive Kriegführung – gesteuert werden. Diese selbsternannte Elite, für die Kardinaltugenden Schnee von gestern sind und bestenfalls für Sonntagsreden taugen, definiere ich wie folgt: sie verfügt über Banklizenzen, also das Monopol der Geldschöpfung, und das wird ihnen so leicht kein Habenichts oder Bitcoin-Apologet aus der Hand schlagen.
Lafontaine war aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich erinnere mich lebhaft an seine Fernsehduelle mit Heiner Geißler im Zuge seiner Kanzlerkandidatur 1990. Auch Heiner Geißler war aus einem anderen Holz geschnitzt. Geißler hatte bei den Jesuiten, einem katholischen Elite-Orden, Lafontaine in einer katholischen Klosterschule bzw. dem bischöflichen Cusanuswerk Bestechlichkeit verachten gelernt. Man kann über die Jesuiten sagen, was man will, aber die Kardinaltugenden standen hoch im Kurs. Joschka Fischer hingegen, wie ich Jahrgang 1948, der Lafontaine einmal als den intelligentesten Politiker bezeichnete, dem er je begegnet sei – da war er mit ihm in der Regierungskoalition –, ist für mich das Paradebeispiel für schmierige Bestechlichkeit: in einem Fernseh-Zweiteiler, der den Ehrgeiz hatte, ihm auf den Grund zu gehen, schaffte er es, seine schmierige Bestechlichkeit zuzugeben und gleichzeitig als bewundernswerte Charaktereigenschaft eines „Großen“ auszugeben.
Was die Bestechlichen – ich meine nicht die Erpressten, nicht diejenigen, die sich Unbestechlichkeit schlicht nicht leisten können –, und noch mehr die Lügner und Betrüger, immer unterschätzen, ist, dass ihre intriganten Strategien, von denen sie glauben, dass sie für ihren Erfolg unabdingbar sind, ihr Selbstwertgefühl untergraben. Das Selbstwertgefühl, der Parameter für psychische Gesundheit Nummer eins, geht baden. Jede Lüge schwächt das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und das Vertrauen in das Leben schlechthin. Warum sollte ein authentischer Mensch voller Selbstvertrauen lügen? Lediglich das Vertrauen in die eigene diabolische Intelligenz wird gestärkt. In dem Maße, wie das zweite Vertrauen das erste, das auf den Kardinaltugenden beruht, ersetzt, entwickelt sich eine narzisstische, manipulative Persönlichkeit, die zwar über hohe Intelligenz verfügen kann – der Schurke im James-Bond-Film ist immer hochintelligent –, aber die Verzweiflung über die eigene Schlechtigkeit, die sich nie ganz verdecken lässt, muss zunehmend durch Machterwerb kompensiert werden. Der Mächtige kann nicht ganz falsch liegen, Gott scheint mit ihm im Bunde zu sein.
Aber da liegt er ganz falsch. Er ist mit Luzifer im Bunde! Mit Mephisto! Gerade wir Deutsche, denen Goethes Faust in die Wiege gelegt wurde, müssen über Bestechlichkeit noch mal neu nachdenken. Und darüber, ob der Mangel an Selbstachtung, Selbstvertrauen und Vertrauen schlechthin nicht schon viel früher eingesetzt hat. Wie viele von uns wurden schon in der Kindheit durch Lieblosigkeit und Misstrauen traumatisiert? Es handelt sich um eine massenhafte psychische Störung mit Wiederholungszwang. Eine verzerrte, negative Wahrnehmung der sozialen Umwelt ist die Folge. Wenn ich mich beim Lügen und Betrügen ertappe und den anderen, den „Feinden“, die Schuld gebe, sollte ich einen Moment innehalten und mich fragen, ob ich selbst ein Teil des Problems bin.
In der Zeitenwende, in der wir uns befinden, in diesem Epochenbruch, wird es darauf ankommen, wie viele Menschen erkennen, dass in der Krise eine fundamentale Entscheidung gefordert ist: will ich Teil des Problems oder Teil der Lösung sein? Mit jeder Lüge und Selbstlüge zementiere ich mich als Teil des Problems. Habe ich den Mut, mich auch schmerzhaften Wahrheiten zu stellen? Für Schopenhauer war die Neigung des gewöhnlichen Menschen zum Betrug und Selbstbetrug unausrottbar. Aber er kannte die heutige Trauma-Therapie-Forschung nicht.
Also: nur Mut! Lasst uns Teil der Lösung sein! Wann immer wir Bestechlichkeit, Betrug, Raffgier, Feindseligkeit begegnen, verstehen wir das als Trauma-Folgen und nehmen es als Herausforderung, unser eigenes Trauma der Ungeliebtheit ad acta zu legen, indem wir der Wahrheit die Ehre geben. Auch wenn sie schmerzlich ist. Lügen brüten Unheil, Wahrheit macht gesund. So der Titel eines Büchleins von Prentice Mulford, einem Autor, der im Wilden Westen gelebt hat.
Die narzisstischen Lügengebäude führen in die ausuferndste aller psychischen Krankheiten: die Paranoia. Das charakteristische — und tragische — daran: sie ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Der Ausgangspunkt ist fehlende Selbstachtung und allgemeines Misstrauen. Das Drama nimmt seinen Lauf. Am Ende bringen sich alle gegenseitig um. Ungezählte Theaterstücke und Krimis, die einen warnend, die anderen lakonisch, schlagen uns damit in ihren Bann. Der erste Schritt als Teil der Lösung wäre, keine Eintrittskarte mehr zu lösen, wenn aus diesem Theaterstück Ernst wird. Wenn nicht mehr mit Platzpatronen geschossen wird. Weil Paranoia ansteckend ist, sollte man sich fernhalten. Ein Meter fünfzig reicht nicht.
Wir sind vielleicht viele, die so denken. Im Ernstfall folgen wir dem Ratschlag Ernst Jüngers und treffen uns im Wald. Oder nächste Woche in Ramstein. Vielleicht wird auch Lafontaine da sein.