Mit einem schlimmen Fuß kam ich ins Krankenhaus, man hängte mich an einen Tropf.
Schon am nächsten Tag wurde mir langweilig.
Den Tropfer hinter mir herziehend, streifte ich durch die Gänge und entdeckte die Patientenbibliothek.
Ein einziges Buch konnte ich nicht auf Anhieb als Schund identifizieren, nämlich Martin Walsers „Ein Augenblick der Liebe“. Es leuchtete mir entgegen, war wie neu und unberührt wie ein Baby.
Beim Lesen stieß ich zum ersten Mal auf den Namen Julien Offray de La Mettrie, ein Philosoph, der genau 200 Jahre vor meiner Geburt geboren ist und genau die gleichen Gedanken entwickelt hat zum Thema Schuld und freier Wille, wie ich sie schon als Kind bzw. als Jugendlicher unabweisbar entwickelt hatte. Genau wie er stieß ich damit in meiner Umwelt auf entrüstete Ablehnung.
Da jegliche ernstzunehmende Wissenschaft, alleine mit der Methode der Falsifikation, von lückenloser Notwendigkeit, von Kausalität ohne Ausnahme ausgeht, und der Mensch als empirisches Untersuchungsobjekt keine Ausnahme darstellt, kann es in einem aufgeklärten Menschen- und Weltbild keinen freien Willen geben.
Als elfjährigem Messdiener, aufgewachsen in einem erzkatholischen Haus im Nordschwarzwald, wuchsen mir diese verdammten katholischen Schuldgefühle immer mehr über Kopf und drückten mich nieder in eine Stimmung der Selbst-Geißelung und Verzweiflung über mich selbst, in der meine Gedanken unablässig nach einem Ausweg aus dieser drohenden Vernichtung der Selbstachtung suchten. In einem bestimmten Augenblick kam mir ein Gedanke, der mir zunächst unerhört erschien, geradezu obszön, weil er die ganze Schuld mit einem Schlag hinwegfegte; ich weiß noch genau, wo ich diese bahnbrechende Erkenntnis hatte, ich bin am Meister-Erwin-Denkmal vorbeigegangen. Meister Erwin, ebenfalls ein Sohn Steinbachs bei Bühl in Baden, gilt als der Erbauer des Straßburger Münsters. Ich bin ein paar Häuser neben seinem Geburtshaus geboren und aufgewachsen.
Als ich auf die Welt kam, war ich als neugeborenes Baby vollkommen unschuldig, weder konnte ich für die Umwelt etwas, in die ich hineingeboren war, noch für mich selbst, so wie ich in dem Moment war.
Sehen wir mal von der Erbsünde ab, die ja doch wohl ein Musterbeispiel für eine metaphysische, geradezu antiaufklärerische Konstruktion darstellt.
Eine Sekunde später hat sich, durch die Wechselwirkung von Baby und Umwelt, das Baby entwickelt, die Umwelt hat sich entwickelt, aber es ist kein Punkt erkennbar, an dem Schuld entsteht. Null plus Null bleibt Null. Nach einer Sekunde ist das Baby immer noch genauso unschuldig, weil es als etwas, für das es nichts kann, interagiert hat mit einer Umwelt, für die es ebenfalls nichts kann.
Und wenn das für die erste Sekunde gilt, gilt das für alle weiteren Sekunden auch.
Dieser Gedanke ist bei mir eingeschlagen wie eine Bombe und ich habe in den folgenden Tagen und Wochen versucht, jemanden zu finden, mit dem ich darüber diskutieren konnte, aber ich habe keinen gefunden, der sich nicht einfach nur mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt hat.
Ich wusste nicht, dass ich mich damit im Fahrwasser von Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) bewegte, der am Beginn der Epoche der Aufklärung In einer Zeitenwende als Denker unterwegs war, die bald in die französische Revolution und napoleonischen Kriege mündete. Ich bin geneigt, die heutige Zeitenwende als Abgesang und Schlusspunkt der sogenannten europäischen Aufklärung zu sehen.
Die Vertreter des Transhumanismus sehen sich in der aktuellen Zeitenwende als die wahren Erben von La Mettrie. Der Mensch als Maschine, deren Ersatzteile man beliebig auswechseln kann, vielleicht sogar soweit, dass er nur noch Maschine ist und trotzdem ein bewusstes Lebewesen! Diese Vision wird von manchen Anhängern des Transhumanismus geradezu frenetisch begeistert, von manchen auch eiskalt proklamiert.
Da hatte man aber einen essentiellen Punkt der aufklärerischen Gedanken übersehen, nämlich der im §1 unseres deutschen Grundgesetzes Eingang gefunden hat, die Würde des Menschen — dass jeder Mensch, im Grunde genommen sogar jedes Lebewesen, das gleiche Recht hat auf Leben und Teilhabe und Glück.
Und dass der darwinsche endlose Krieg des Survival of the Fittest nur eine Lern-Aufgabe darstellt, die uns klar machen soll, dass Kampf und Krieg grundsätzlich das Gegenteil von glücklich sein bedeuten. Das Ego kann nicht glücklich sein. Höchstens befriedigt. Es ist grundsätzlich unbefriedigt. Der Kampf ums Überleben erscheint sinnlos, wenn klar wird, dass der letzte Kampf mit absoluter Sicherheit verloren wird. Angst und Gier sind Leitplanken, die uns nicht in den sicheren Tod lenken sollen sondern auf den Weg hin zum universellen Prinzip der Liebe, etwas, das in dem Roman von Martin Walser unter anderem durch einen Aufsatz des Protagonisten mit dem Titel »Alles Eins« bezeichnet wird.
Nach Hermann Hesse, nach den Hippies, nach Osho, nach New Age, ist das Wassermann-Zeitalter jetzt angebrochen oder nicht?
Es wird doch immer klarer, dass die Zeitenwende, in der wir uns jetzt befinden, uns auffordert, unser ganzes Sinnen und Trachten auf die Aufgabe zu richten, wie wir wahrhaft Liebende werden können. Kampf und Krieg wird uns ins Verderben führen. In den Untergang.
In dieser Zeitenwende wird der künftige, liebende Mensch zunächst erkennen, dass kein Subjekt ohne Objekt existieren kann, dass auch kein Objekt ohne Subjekt existieren kann, dass beide separat überhaupt nicht existieren, dass vielleicht in der Berührung von Subjekt und Objekt, in der Wahrnehmung, in der Berührung von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen, die in dem Moment dasselbe sind, untrennbar im Moment der Wahrnehmung, dass in jedem beliebigen Zeitpunkt des Bewusstseins es nicht zwei gibt, sondern nur eins.
Das wird ein Moment der Liebe sein.
Das wird eine Erweiterung des begrenzten Bewusstseins hin zum unbegrenzten Bewusstsein.
Wenn zwei sich zusammentun, damit ein Neues entsteht, damit Eines entsteht, dann ist es immer ein Moment der Liebe.