Z E I T E N E N D E

Amok

Der Preis der Totalüberwachung

Die digitale Rundumüberwachung verspricht Sicherheit, doch sie schafft das Gegenteil: Eine Gesellschaft unter permanenter Beobachtung verletzt systematisch die Menschenwürde und erzeugt jene Gewalt, die sie zu verhindern vorgibt. Während die NSA längst jeden Internetklick speichert, werden Bürger durch KI-gestützte Wahrscheinlichkeitsrechnung zu potentiellen Verbrechern abgestempelt – präventive Verbrechensbekämpfung, die die Menschenwürde mit Füßen tritt. Und vorgeschoben ist — denn letztlich geht es um die Macht des Imperiums.

Ich bin ein EDEKA-Laden-Kind.

Und mein Vater, der EDEKA Kaufmann und Deutscher Jugendmeister im Hammerwerfen 1935 war ein Machtmensch. Ich hatte ihn schon als Pennäler (in den 60er Jahren) im Verdacht, unser Haus verwanzt zu haben.

Die Macht-Menschen stehen total auf Total-Überwachung. Angeblich, um Verbrecher aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ein Verbrechen geschehen ist, fragen sie aber nicht, ob Totalüberwachung es hätte verhindern können. Falls die Bevölkerung sich sträubt, wie Verbrecher behandelt zu werden, lassen sie ein Verbrechen geschehen oder begehen es sogar selbst, um die Totalüberwachung zu legitimieren.

Die Geschichte zeigt, dass Behörden durchaus bereit sind, Gewalt zu inszenieren oder geschehen zu lassen. Hier nur zwei Beispiele: Operation Northwoods (1962) sah vor, Terroranschläge gegen US-Bürger zu inszenieren und Castro die Schuld zu geben. Das FBI-Programm COINTELPRO führte systematisch Operationen durch, die in der Ermordung von Aktivisten wie Fred Hampton gipfelten.

Es wird unter Totalüberwachung mehr und schlimmere Verbrechen geben. Besonders Amokläufe und Selbstmordattentate werden zunehmen.

Warum? Die Menschenwürde des Überwachten wird verletzt. Er weiß nicht genau, wannwo und wie er beobachtet wird. Er hat kein Mittel, sich zu wehren. Die Überwachung dient vordergründig seinem Schutz, in Wahrheit allein der Kontrolle. Der Überwacher ist nicht sichtbar, nicht ansprechbar, nicht rechenschaftspflichtig. Es handelt sich um ein systemisches Machtgefälle, das die Menschenwürde fundamental verletzt. Und zwar strukturell — nicht durch individuelles Fehlverhalten, sondern durch die Struktur selbst — und einseitig — wegen der Ohnmacht des Überwachten. In dieser toxischen Beziehung ist er „kein Zweck an sich selbst“ (Kant), hat keine Kontrolle über die eigene Darstellung, wird
reduziert auf ein Objekt der Verwaltung, Kontrolle, Technik. Er ist bloß noch Datenpunkt, Risiko, zu überwachende Variable – nicht mehr Subjekt.

Dies führt zu Verlust von Selbstwirksamkeit, oft erste Stufe von Depression. Zu dem Gefühl, nicht mehr dazu zu gehören. Menschen, die sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlen, werden entweder stumm – oder explosiv. Das subjektive Empfinden, gedemütigtentblößt und ausgeliefert zu sein, ist ein starker Gewaltfaktor. Viele Amokläufer oder Attentäter haben das Gefühl, nicht mehr gesehen zu werden als Mensch, sondern nur noch als störendes Element. Die Gewalt erscheint dann als letzter Weg, Würde zurückzuerlangen – paradox, verzweifelt, tragisch, aber psychologisch erklärbar.

Eine Gesellschaft, die asymmetrische, entwürdigende Überwachung praktiziert, erzeugt die psychologischen und sozialen Bedingungen, unter denen extreme Gewaltakte gedeihen können.

Gegenargument der Macht-Menschen: Totalüberwachung mit mehrjähriger Speicherung sämtlicher relevanter Äußerungen aller Menschen im digitalen Raum erlaubt es, nach jedem Attentat oder Terroranschlag die Daten des Täters dem maschinellen Lernen zuzuführen. Dann kann eine KI die Muster der Datenspuren der Amokläufer mit denen der bisher unbescholtenen Bürger vergleichen und Alarm schlagen, wenn z.B. bei mir ein ähnlicher Trend entdeckt wird. Wahrscheinlich werde ich aber nicht gewarnt, dass ich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit demnächst Amok laufen werde, weil mein versuchter Amoklauf gebraucht wird, um die Totalüberwachung zu legitimieren.

Gott sei Dank missglückt! Die Dienste haben einen super Job gemacht! Der Amokläufer wurde getötet, bevor er sein mörderisches Werk in Szene setzen konnte. Bei der anschließenden Durchsuchung durch Sicherheitskräfte wurde sein Pass aufgefunden. Ein durch Verschwörungserzählungen aufgehetzter einsamer Wolf, der sich durch übermäßigen Telegram-Konsum radikalisiert hat.

Man muss leider davon ausgehen, dass dies keine Science Fiction ist, sondern gängige Praxis. Bereits 2013 hat der Whistleblower und NSA-Admin Edward Snowden offenbart, dass die NSA etwas tut, was nur die USA, als Gründer und Erfinder des Internets, tun können: an sämtlichen großen Internet-Knoten, den sog. Backbones, mitlesen.

Edward Snowden in „Permanent Record“:
… „Ankündigung der NSA, man werde in Bluffdale in Utah ein riesiges neues Datenzentrum bauen. Die Behörde gab ihm den Namen Massive Data Repository, bis jemand mit einem Gespür für PR erkannte, dass der Name sich nur schwer erklären ließ, wenn er jemals ans Licht kam; also änderte man ihn in Mission Data Repository. Solange sich die Abkürzung nicht änderte, brauchte man auch die vielen Folien für das Briefing nicht neu zu schreiben. Das MDR sollte aus insgesamt vier Hallen voller Server bestehen, mit einer Gesamtgröße von über 2000 Quadratmetern. Es konnte eine ungeheure Datenmenge speichern, eine fortlaufende Geschichte der Lebensabläufe aller Menschen auf dem gesamten Planeten, sofern man unter Leben die Zusammenhänge zwischen Zahlungen und Menschen, Menschen und Telefonen, Telefonen und Anrufen, Anrufen und Netzwerken sowie der Gesamtheit der Internetaktivitäten, die über die Leitungen dieser Netzwerke laufen, verstehen kann.“

Wenn man das gesamte Internet speichert, kann man etwas tun, was sonst nur ein Endpunkt (Empfänger IP-Adresse) tun kann: nämlich alle Päckchen einer Datei (jeweils 512 Byte, die normalerweise erst in meinem Router, z.B. FritzBox, zusammengesetzt werden, nachdem sie über ganz verschiedene Wege, die durchaus über verschiedene Kontinente laufen können, zum Empfänger gelangt sind), anhand der Absender- und Empfänger-Stempel der Päckchen wieder zu einer Datei zusammenfügen. Der geplante Ausbau dieser gigantischen „Festplatte“, viele Trilliarden Bytes, reicht heute wohl aus, um jede Internet-Aktivität jeden Erdenbürgers wie eine Time-Machine zu speichern. Wenn der Speicher voll ist, werden die ältesten Einträge gelöscht, und wenn die ältesten Einträge, sagen wir, 5 Jahre alt sind, ist das obige Szenario realistisch. Snowdens NSA Dokumente, von denen Glenn Greenwald bisher nur einen Bruchteil veröffentlicht hat, zeigen glasklar, dass diese Art der Totalüberwachung angestrebt, angekündigt und verwirklicht wurde.

Beispiel: als Polizeichef ist meine Kapazität für bestimmte Vorgänge begrenzt. Ich kann mit meinem Personal und der aktuellen Auftrags- bzw. Bedrohungslage vielleicht 30 Hausdurchsuchungen im Monat durchführen. Je nach Kriterien — Amok, Banküberfall, Vergewaltigung, Kinderpornografie usw. lasse ich mir in meinem Bezirk die 30 Personen nennen, die am wahrscheinlichsten demnächst straffällig werden – und schon sind sie fällig.

Man hört gar nichts mehr davon, niemand regt sich auf. Das liegt wohl daran, dass die Nachrichtendienste der westlichen Welt seither am Tropf der NSA hängen, und sich Fahndungserfolge bzw. die Verhinderung von Anschlägen an die Brust heften können, auch wenn der entscheidende Hinweis von der NSA kam.

Aber es geht nicht nur um sogenannte „Gefährder“. Snowdens Enthüllungen zeigen, dass die NSA systematisch Wirtschaftsspionage betreibt und ausländische Unternehmen ausspioniert, die mit amerikanischen Firmen konkurrieren. Die gesammelten Daten fließen in ein System, das nicht nur der nationalen Sicherheit dient, sondern amerikanischen Konzernen Wettbewerbsvorteile verschafft. In wichtigen Verhandlungen können so sensible Informationen über Verhandlungsstrategien, Preiskalkulationen oder technische Geheimnisse der Konkurrenz verfügbar sein.

Weiterhin, und das ist der eigentliche Knackpunkt, weiß jeder Entscheidungsträger ab einer gewissen Karrierestufe, dass auch alle seine Absonderungen im digitalen Raum — alle Telefonate, jeder Text, jedes Bild und jeder Ton, sofern nicht NSA-sicher verschlüsselt — von den Herren des gigantischen Speichers in Utah jederzeit auf Knopfdruck hervorgeholt werden können.

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