Z E I T E N E N D E

Schlagwort: Krieg

Land der Tugend

Eine Reflexion über Unbestechlichkeit in der Moderne

Das chinesische Wort für Deutschland bedeutet übersetzt: Land der Tugend.

Die sogenannten Deutschen Tugenden, das ist nicht nur Fleiß, nein, auch Wahrhaftigkeit, Mut, Disziplin und insbesondere Unbestechlichkeit führen derzeit — in der Zeitenwende — ein Schattendasein. Verrückt, dass ausgerechnet kriegerische Politiker in ihrer Werbung für Kriegstüchtigkeit die im Grunde zeitlose Attraktivität der Tugenden missbrauchen für ihre geopolitische Agenda, denn diese Politiker sind gerade ein Musterbeispiel für Bestechlichkeit, Verlogenheit und Disziplinlosigkeit. Als die Moderne in den American Way of Life mündete, in „Genuss ohne Reue“, in „Carpe Diem“, in „nach mir die Sintflut“, in „wenn ich’s nicht mache, macht’s ein anderer“, ersetzte in dieser modernen Beliebigkeit fortan der erzielbare Genuss den Schweiß im Angesicht. Nur der Krieg scheint mit Blood, Sweet and Tears die Tugenden zu erzwingen. Das wäre allerdings das größte denkbare Missverständnis. Denn der Krieg ist das Ergebnis von Untugend und bringt jede Untugend zu ihrer äußersten Ausformung.


Ich sag es gleich: Ich bin ein Fäään von Lafontäään. Lafontaine hat damals, bei seiner Kanzlerkandidatur 1990, den Deutschen die Wahrheit über die Kosten des Anschlusses der Ost-Länder gesagt. Das wollte aber niemand hören – sie wollten die „schnelle Mark“. Kohls Wechselkursangebot Eins-zu-Eins hat die Ostdeutschen bestochen und somit indirekt die im Grundgesetz vorgesehene Möglichkeit einer neuen Verfassung, die Lafontaine bevorzugt hätte, zum Scheitern verurteilt. Lafontaine, dessen bundespolitische Laufbahn mit der Verehrung Willy Brandts begann, wäre der Richtige gewesen, die Friedensdividende von Brandts Ostpolitik in unumkehrbare Formen zu gießen. Weil er, wie Brandt, Bestechlichkeit verachtete. Dafür, dass er reinen Wein einschenkte, wurde er bestraft – die 90er wurden zum Parforceritt der neoliberalen Bestechlichkeit.

Die vergessene Kultur der Verehrung

In asiatischen Gesellschaften – ich kenne mich nur mit der indischen und der tibetischen etwas aus – findet man noch so etwas wie die Verehrung der Älteren. Das alleine klingt in den westlichen, aufgeklärten Gesellschaften schon idiotisch, wenn nicht gar zurückgeblieben. Im Gegensatz zu unserer Fan-Kultur, in der wir für Stars jedweder Art, seien es Sportler, Künstler oder Politiker, nur Bewunderung übrig haben, gibt es dort die „Ehre“ noch, die im Westen in der sogenannten Aufklärung auf der Strecke geblieben ist. Bei dem Wort „Ehre“ denken wir an die alten Rittersleute, Duelle, Orden, „Jubelperser“ und die Weltkriege, in denen Ehre und Vaterland zusammen mit Nationalismus und Exzeptionalismus den Boden düngten, auf dem diese Kriege erst möglich wurden.

„Du sollst Vater und Mutter ehren“ – die tiefe Weisheit dieses Ratschlags aus den „Zehn Geboten“ wird hierzulande zusammen mit den christlichen Kirchen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Dabei hat das Konzept der „Verehrung“ nur positive Aspekte, sowohl für den Verehrten als auch für den Verehrenden. Jede Art von Ehre ist untrennbar mit Tugenden verbunden, die sich in jeder Gesellschaft herausbilden, denn nur wenn ein gewisses Maß an Tugenden in der Gesellschaft blüht und gedeiht, kann sich jedes Mitglied wohlfühlen und hat Lust, in seiner Funktion gedeihlich am Allgemeinwohl mitzuwirken.

Der Verehrende fühlt etwas Heiliges im Angesicht der Weisheit eines Älteren, dessen Vorbild er nachstreben will, weil dieser mit seiner ganzen Person, mit Körper, Sprache und Geist für eine Tradition steht, die das Wohl der Gesellschaft seit Alters her sichert und beschützt. Er sieht sich als Schüler, der vom verehrten Lehrer nicht nur Wissen und Fähigkeiten erwirbt, um im Lebenskampf zu bestehen, sondern auch – und vor allem – eine Weltanschauung, eine Lebensphilosophie, ein Menschenbild, das ihm ermöglichen soll und wird, glückliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzunehmen.

Um dieses Gefühl der Verehrung, dieses durch und durch positive Gefühl, aufzubauen, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein. Der verehrte Lehrer muss ein guter Mensch sein, das heißt, er muss seinen Egoismus, seinen Narzissmus vollkommen aufgegeben haben, was der Schüler im direkten Umgang jederzeit feststellen kann – der Lehrer antwortet auf Beleidigungen, Schmähungen oder böswillige Schädigungen nicht mit Hass und Selbstbehauptung, sondern agiert geschickt und besänftigend – was dem Schüler nicht nur Bewunderung abnötigt, sondern eben auch das heilige Gefühl der Verehrung aufsteigen lässt.

Der Verehrte muss durch alle menschlichen Höhen und Tiefen gegangen sein, um diese Unerschütterlichkeit zu erreichen. Das Wohl aller Wesen ist ihm höchste Maxime. Er weiß, dass nur diese Haltung auch sein eigenes Lebensglück bedingt und dass er nur dadurch am Ende seines Lebens zufrieden und entspannt die Augen schließen kann. Denn er hat seinen Auftrag erkannt und bestmöglich ausgeführt.

In den genannten asiatischen Gesellschaften ist der „Guru“, zu deutsch „Lehrer“, ein fester Bestandteil des täglichen Umgangs. Die Gesten der Verehrung – „betende Hände“ als Begrüßung (Namaskaar, Namaste), Verbeugung, Niederwerfung – sind nicht Zeichen der Unterwerfung, sondern der Verehrung. Der Guru verbeugt sich ebenfalls, wirft sich genauso nieder wie der Schüler: er hat den göttlichen Ursprung aller Wesen erkannt.

Vom Geistwesen zur Konsummaschine

Was heute als Moral gilt, ist oft nur der Versuch, anderen die eigenen Maßstäbe von Gut und Böse aufzuzwingen. Zwischen einer solchen herrschenden Moral und authentischem Gutsein klafft jedoch ein Abgrund.

Leider muss man sagen, dass auch im ferneren Osten die Grenze zwischen Unterwerfung und Verehrung ins Rutschen, ins Fließen gekommen ist. Es ist schon erstaunlich genug, dass es Gesellschaften gibt, die nur durch Herzensbildung ihrer Mitglieder, fast ohne Zwang, ein friedliches, lustvolles und kreatives Leben ermöglichen – die Versuchung des Egoismus, des Lügens, Stehlens, Intrigierens usw. ist grundsätzlich sehr stark, das weiß jeder, der einmal ein Volks-Theaterstück von Johann Nestroy erlebt hat –, aber seit dem Aufkommen des Materialismus im Zuge der europäischen Aufklärung, die den Menschen nicht mehr als Entdecker und Bewahrer ewiger Werte sieht, die nur durch Entwicklung jener Tugenden bewahrt werden können, sondern als soziale Bedürfnis-Maschine, die gut geölt sein will, gilt die Anfachung und Lenkung des Konsums als Ultima Ratio der politischen Klasse.

Der Mensch ist im materialistischen, naturwissenschaftlich gestützten Weltbild kein Geistwesen mehr, dessen Geist in höchster Selbsterkenntnis ein Spiegel des Heiligen Geistes ist, sondern ein Herdentier, ein Säugetier. Die Elite sieht ihre Aufgabe darin, durch „artgerechte Menschenhaltung“ (s. Franz M. Wuketits 2012) eine gewisse Zufriedenheit der Bevölkerung sicherzustellen. Durch die Unwiderstehlichkeit des „American Way of Life“ in der Globalisierung gilt dies inzwischen nicht nur für die westlichen Völker und ihre Eliten, die durch ungeheuren Fortschritt in Technik und Wissenschaft reich und mächtig geworden sind, sondern auch für tausendjährige Kulturen, deren Stabilität sich auf Einfachheit, Wahrheit, Schönheit gründete, welche unmittelbar ein Ausfluss jener Tugenden war, die die Älteren den Jüngeren, die Lehrer den Schülern, die Wissenden den noch Unwissenden beibrachten.

Die artgerechte Menschenhaltung beruht zuallererst auf Bestechlichkeit. Im Kapitalismus ist vor allem der bestechliche Bürger ein guter Bürger. Aus Sicht des Kapitals ist vor allem der bestechliche Politiker ein guter Politiker. Ist diese Denkweise — Zuckerbrot — allgemein akzeptiert, kann auf die Peitsche verzichtet werden, die behält man für Notfälle, für den Ausnahmezustand, in der Schublade. Die artgerechte Menschenhaltung kann elegant über Geldfluss – Meinungsmanagement, kognitive Kriegführung – gesteuert werden. Diese selbsternannten Eliten, für die Kardinaltugenden Schnee von gestern sind und bestenfalls für Sonntagsreden taugen, definiere ich wie folgt: sie verfügen über Banklizenzen, also das Monopol der Geldschöpfung, und das wird ihnen so leicht kein Habenichts oder Bitcoin-Apologet aus der Hand schlagen.

Lafontaine gegen Fischer: Unbestechlichkeit gegen Opportunismus

Lafontaine war aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich erinnere mich lebhaft an seine Fernsehduelle mit Heiner Geißler im Zuge seiner Kanzlerkandidatur 1990. Auch Heiner Geißler war aus einem anderen Holz geschnitzt. Geißler hatte bei den Jesuiten, einem katholischen Elite-Orden, Lafontaine in einer katholischen Klosterschule bzw. dem bischöflichen Cusanuswerk Bestechlichkeit verachten gelernt. Man kann über die Jesuiten sagen, was man will, aber die Kardinaltugenden standen hoch im Kurs. Joschka Fischer hingegen, wie ich Jahrgang 1948, der Lafontaine einmal als den intelligentesten Politiker bezeichnete, dem er je begegnet sei – da war er mit ihm in der Regierungskoalition –, ist für mich das Paradebeispiel für schmierige Bestechlichkeit: in einem Fernseh-Zweiteiler, der den Ehrgeiz hatte, ihm auf den Grund zu gehen, schaffte er es, seine schmierige Bestechlichkeit zuzugeben und gleichzeitig als bewundernswerte Charaktereigenschaft eines „Großen“ auszugeben.

Was die Bestechlichen – ich meine nicht die Erpressten, nicht diejenigen, die sich Unbestechlichkeit schlicht nicht leisten können –, und noch mehr die Lügner und Betrüger, immer unterschätzen, ist, dass ihre intriganten Strategien, von denen sie glauben, dass sie für ihren Erfolg unabdingbar sind, ihr Selbstwertgefühl untergraben. Das Selbstwertgefühl, der Parameter für psychische Gesundheit Nummer eins, geht baden. Jede Lüge schwächt das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und das Vertrauen in das Leben schlechthin. Warum sollte ein authentischer Mensch voller Selbstvertrauen lügen? Lediglich das Vertrauen in die eigene diabolische Intelligenz wird gestärkt. In dem Maße, wie das zweite Vertrauen das erste, das auf den Tugenden beruht, ersetzt, entwickelt sich eine narzisstische, manipulative Persönlichkeit, die zwar über hohe Intelligenz verfügen kann – der Schurke im James-Bond-Film ist immer hochintelligent –, aber die Verzweiflung über die eigene Schlechtigkeit, die sich nie ganz verdecken lässt, muss zunehmend durch Machterwerb kompensiert werden. Der Mächtige kann nicht ganz falsch liegen, Gott scheint mit ihm im Bunde zu sein.

Trauma als Schlüssel zum Verständnis

Aber da liegt er ganz falsch. Er ist mit Luzifer im Bunde! Mit Mephisto! Gerade wir Deutsche, denen Goethes Faust in die Wiege gelegt wurde, müssen über Bestechlichkeit noch mal neu nachdenken. Und darüber, ob der Mangel an Selbstachtung, Selbstvertrauen und Vertrauen schlechthin nicht schon viel früher eingesetzt hat. Wie viele von uns wurden schon in der Kindheit durch Lieblosigkeit und Misstrauen traumatisiert? Es handelt sich um eine massenhafte psychische Störung mit Wiederholungszwang. Eine verzerrte, negative Wahrnehmung der sozialen Umwelt ist die Folge. Wenn ich mich beim Lügen und Betrügen ertappe und den anderen, den „Feinden“, die Schuld gebe, sollte ich einen Moment innehalten und mich fragen, ob ich selbst ein Teil des Problems bin.

In der Zeitenwende, in der wir uns befinden, in diesem Epochenbruch, wird es darauf ankommen, wie viele Menschen erkennen, dass in der Krise eine fundamentale Entscheidung gefordert ist: will ich Teil des Problems oder Teil der Lösung sein? Mit jeder Lüge und Selbstlüge zementiere ich mich als Teil des Problems. Habe ich den Mut, mich auch schmerzhaften Wahrheiten zu stellen? Für Schopenhauer war die Neigung des gewöhnlichen Menschen zum Betrug und Selbstbetrug unausrottbar. Aber er kannte die heutige Trauma-Therapie-Forschung nicht.

Teil der Lösung werden

Also: nur Mut! Lasst uns Teil der Lösung sein! Wann immer wir Bestechlichkeit, Betrug, Raffgier, Feindseligkeit begegnen, verstehen wir das als Trauma-Folgen und nehmen es als Herausforderung, unser eigenes Trauma der Ungeliebtheit ad acta zu legen, indem wir der Wahrheit die Ehre geben. Auch wenn sie schmerzlich ist. „Lügen brüten Unheil, Wahrheit macht gesund“! So der Titel eines Kapitels in „The Gift of the Spirit“, Prentice Mulford 1898.

Die narzisstischen Lügengebäude führen in die ausuferndste aller psychischen Krankheiten: die Paranoia. Das charakteristische — und tragische — daran: sie ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Krankhaftes Misstrauen führt zu Handlungen, die Reaktionen provozieren, die wiederum das Misstrauen gerechtfertigt erscheinen lassen. Der Ausgangspunkt ist fehlende Selbstachtung und allgemeines Misstrauen. Das Drama nimmt seinen Lauf. Am Ende bringen sich alle gegenseitig um. Ungezählte Theaterstücke und Krimis, die einen warnend, die anderen lakonisch, schlagen uns damit in ihren Bann. Der erste Schritt als Teil der Lösung wäre, keine Eintrittskarte mehr zu lösen, wenn aus diesem Theaterstück Ernst wird. Wenn nicht mehr mit Platzpatronen geschossen wird. Weil Paranoia ansteckend ist, sollte man sich fernhalten. Ein Meter fünfzig reicht nicht.

Wir sind vielleicht viele, die so denken. Im Ernstfall folgen wir dem Ratschlag Ernst Jüngers und treffen uns im Wald. Dort werden wir uns daran erinnern, dass es einmal Politiker wie Lafontaine gab, die Bestechlichkeit verachteten. Und vielleicht werden wir erkennen, dass nicht er gescheitert ist, sondern eine Zeit, die seine Tugenden nicht zu schätzen wusste. Das ‚Land der Tugend‘ wartet darauf, wiederentdeckt zu werden.

Der Pazifist oder die Logik der Abschreckung

In einer Zeit, in der die Weltuntergangsuhr der Atomwissenschaftler 90 Sekunden vor Mitternacht zeigt – näher am Abgrund als je zuvor –, stellt sich eine fundamentale Frage: Führt die Logik der Abschreckung wirklich zum Frieden oder ist sie der erste Schritt in den Krieg?

Dieser Artikel ist unter dem Titel „Abschreckung bis zur Auslöschung“ auch bei MANOVA erschienen.

Ich sage es gleich: Ich bin Pazifist. Was ist das, ein Pazifist? Einer, der die rechte Backe hinhält, wenn einem auf die linke geschlagen wird? Das ist der radikale Pazifismus, den Jesus gepredigt hat. Auch der in Deutschland sehr beliebte Mahatma Gandhi war sehr erfolgreich mit einem radikalen Pazifismus, der jegliche Gewaltanwendung sogar zur Selbstverteidigung ablehnt. Die Deutschen galten ja bis vor Corona noch als das pazifistischste Volk Europas, das man kaum zum Jagen tragen konnte. Bundeskanzler Kohl hat noch zehn Milliarden an die Amerikaner berappt, um am Golfkrieg nicht teilnehmen zu müssen. Erst SPD-Kanzler Schröder und sein grüner Kompagnon Joschka Fischer haben 1999 einen Angriffskrieg begonnen, der nicht von den Vereinten Nationen (UN) gedeckt war. Man hat elf Wochen lang Serbien heftigst bombardiert, zuerst die Klärwerke und Elektrizitätswerke, dann Fabriken und sonstige Infrastruktur. Wie üblich in solchen Fällen bemüht man zur Rechtfertigung Hitler-Vergleiche. Statt „Nie wieder Krieg“ war Joschka Fischers Propagandahebel „Nie wieder Auschwitz“. Dazu muss man Slobodan Milošević natürlich so etwas wie Auschwitz unterstellen, was man auch versucht hat, dies erwies sich aber später als nicht haltbar.

Das erklärt vielleicht, warum ich heute so erstaunt bin, dass all diese Christen, die zu Hause einen Jesus am Kreuz hängen haben, bereit sind, mich als Putinversteher beziehungsweise Putinknecht herabzuwürdigen, wenn ich eine pazifistische Position vertrete. Eine pazifistische Position bedeutet jedoch beispielsweise, in einem Konflikt beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir einem Angeklagten das Wort verbieten, sind wir definitiv im Faschismus!

Es gibt eine sehr schöne Definition von Pazifismus, nämlich: Frieden schaffen ohne Waffen. Leider scheint dieser Satz wenig Überzeugungskraft zu haben, denn die meisten Menschen halten es immer noch für selbstverständlich, dass der gegenteilige Satz „Frieden schaffen mit Waffen“ alternativlos sei. Das Zauberwort hier lautet Abschreckung: Die bösen Räuber dieser Welt würden ohne Abschreckung rauben und morden ohne Ende.

Doch wohin führt uns diese Denkweise? Eine solche Art zu denken führt uns schlicht in barbarische Zeiten, in vor-zivilisatorische Zeiten, als das einzige Gesetz gegen die Macht des Stärkeren das biblische Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, von Gott höchstselbst den Menschen gegeben, war. Das ist sogar ein ziemlich kluger Satz, weil er die extrem starke Tendenz zur Konflikt-Eskalation zu bremsen versucht. Es hat dann allerdings einige tausend Jahre gedauert bis zur Proklamation der Menschenrechte, dem Gewaltmonopol des Rechtsstaats, der von freien und gleichberechtigten Bürgern gebildet wird, dessen friedensschaffendes und friedenserhaltendes Prinzip auch von den Vereinten Nationen verwirklicht werden sollte. Das hat jedoch nicht geklappt. Leider ist die internationale Politik immer noch ein rechtsfreier Raum. Mit der Einhaltung des Völkerrechts schmückt man sich nur, wenn es den eigenen Interessen dient. Das liegt wohl am fehlenden Gewaltmonopol. Also zurück zur Barbarei, zur Politik der Abschreckung.

Wir Deutschen sollten, wenn wir das Wort „Abschreckung“ hören, sofort an die Hitlerzeit denken, denn niemand hat in der Menschheitsgeschichte seine Gräueltaten dermaßen mit Abschreckung begründet wie die Nazis. Die Logik der Abschreckung ist die wahre Ursache für Krieg. Die Bombardierung Guernicas sollte die Basken abschrecken, die Vernichtung von Oradour-sur-Glane sollte die französische Résistance abschrecken, die Auslöschung Lidices sollte die Tschechen nach der Ermordung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich abschrecken. Damit diese Logik der Abschreckung, die man auch Kriegslogik nennt, wirkt, muss man bereit sein zu Gräueltaten, sonst wird die Abschreckung vom Feind nicht ernst genommen. So zu tun, als wäre man zu Gräueltaten bereit, reicht jedoch nicht – das allein ist noch nicht glaubhaft –, man muss es auch tun. Ein gutes Beispiel sind die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Furchtbare Gräueltaten, die bis heute den Respekt vor dem amerikanischen Imperium begründen.

Pazifist wird man in dem Moment, in dem man erkennt, dass die Logik der Abschreckung der erste Schritt in den Krieg ist. Wobei Selbstverteidigung im nicht ganz so radikalen Pazifismus, im Gegensatz zum Pazifismus Jesu oder Gandhis, erlaubt und sogar geboten ist. Dummerweise wird von jedem Angreifer sein Angriff als Selbstverteidigung dargestellt.

Wie diese Logik in der Praxis funktioniert, zeigt sich am aktuellen Konflikt in der Ukraine. Da bildet Putin keine Ausnahme in seinen Reden. Zur Begründung des Völkerrechtsbruchs hatte er explizit auf den Präzedenzfall des Kosovo-Krieges Bezug genommen. Auch Somalia, Libyen, Irak und vor allem Syrien – Länder, mit denen Russland traditionelle Beziehungen und Beistandsverpflichtungen unterhielt – nannte er. Und überhaupt glauben die Russen, das Recht zu haben, sich dem Hegemonie-Anspruch des US-Imperiums zu widersetzen und nach eigener Fasson selig zu werden. Es gebe schließlich nicht nur einen Antisemitismus, es gebe auch einen Antislawismus. Diese Ängste sind nicht unbegründet — bei uns wird nicht erst seit Februar 2022 Angst vor den Russen geschürt, obwohl jedem geschichtsbewussten Mitbürger klar sein müsste, dass die Russen historisch mehr Grund haben, vor uns Angst zu haben als umgekehrt. Beides lasten sie den westlichen Faschisten und Nazis an, die nicht vor der Ausrottung auch slawischer Völker zurückschreckten, die sie für minderwertig erklärten.

Nachdem Putin den Ausverkauf der Bodenschätze an internationale Oligarchen gestoppt hat, hat sich die im Grunde gutmütige russische Seele wieder gefangen und sich ihrer selbst vergewissert. Acht Jahre Krieg gegen die russische Bevölkerung des Donbass – einst das Ruhrgebiet und Hightech-Standort der UdSSR –, angezettelt von amerikanischen Geostrategen, die das „Herzland“ unter ihre Kontrolle bringen wollen, ständige Aufrüstung direkt an der russischen Grenze und schließlich die angestrebte NATO-Mitgliedschaft ließen jedes Fass überlaufen. Die bereits von Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 genannten roten Linien waren überschritten. Putins Einmarsch setzte ein Zeichen der Abschreckung: bis hierhin und nicht weiter. Da in diesen acht Jahren die ukrainische Armee von den Amerikanern mit den modernsten Waffen ausgerüstet worden war – sogar Bundeskanzlerin Merkel hat zugegeben, dass Minsk II nicht ernst gemeint war, sondern den Zeitrahmen für diese Aufrüstung schaffen sollte –, entwickelte sich die geplante Militäraktion anders als erwartet. Putin hatte ursprünglich vorgehabt, diejenigen zu verhaften und vor Gericht zu stellen, die er für die Bombardements der Großstädte im Donbass verantwortlich machte — Kräfte, die er als „Faschisten“ und „Nazis“ bezeichnete. Doch die Operation blieb im Stellungskrieg stecken. Nach russischer Darstellung konnten immerhin viele Biowaffenlabore geschlossen werden, in denen Kampfstoffe entwickelt wurden, die speziell slawische Ethnien krank machen sollten und im Bereich der russischen Grenze „mit Erfolg“ getestet worden seien.

Von all diesen Hintergründen und Argumenten erfahren die Deutschen nichts, die russischen Quellen wurden, soweit möglich, geblockt. Der Angeklagte darf nicht gehört werden. Abschreckung ist wie unter Hitler wieder das Maß aller Dinge.

Und so breitet sich diese Denkweise wie ein Virus aus: Wie eine ansteckende Krankheit, die sich im Gegensatz zu Corona von Mutation zu Mutation verschlimmert, greift das Abschreckungsvirus immer weiter um sich. Alle rüsten wie verrückt, die Grünen vergessen die Umweltzerstörung, die CDU vergisst die christliche Botschaft, die SPD vergisst die „kleinen Leute“, die sowieso als erste draufgehen, die Linken vergessen die Solidarität mit den Schwachen, und alle zusammen vergessen die Atombomben.

Das ist nun wirklich der Gipfel der Absurdität, dass in einer Zeit, in der wieder Abschreckungsideologen regieren, die Mutter aller Abschreckung, nämlich die Atombombe, vergessen wird. Dabei stehen wir heute näher am Atomkrieg als jemals zuvor seit der Kubakrise 1962. Die Weltuntergangsuhr der Atomwissenschaftler zeigt 90 Sekunden vor Mitternacht — so nah am Abgrund waren wir noch nie.

Wer die Logik der Abschreckung zu Ende denkt, landet bei der atomaren Vernichtung der Menschheit. Das ist die ultimative Konsequenz dieser Denkweise: die totale Zerstörung als letztes Argument. Genau deshalb ist der Pazifismus heute keine romantische Utopie, sondern ein Gebot des Überlebens. Die Alternative zur Abschreckungslogik ist nicht Unterwerfung — die Alternative ist das Erwachen zu unserer fundamentalen Verbundenheit, die Erkenntnis, dass der Schmerz des anderen unser eigener Schmerz ist, dass es keinen wirklichen Sieg geben kann, wenn er auf dem Leid anderer fühlender Wesen beruht.

Doch die Logik der Abschreckung verlangt das Gegenteil: Sie erklärt andere Menschen zu Werkzeugen des Teufels, damit wir uns als Werkzeuge Gottes sehen können. Der Feind denkt genauso. Aber in dem furchtbaren Totalitarismus, der aus dieser Denkweise erwächst, gilt eine solche Erkenntnis als Wehrkraftzersetzung. Man kann dafür an die Wand gestellt werden. Denn der Sieg muss unser sein — sonst wären unsere Helden umsonst gestorben.

Schließen möchte ich mit Erich Kästner:

„Glaubt nicht,

Ihr hättet Millionen Feinde.

Euer einziger Feind

heißt — Krieg.“


Dieser Text wurde als Rede auf der Friedensdemo am 7.7.2025 auf dem Marktplatz in Bonn gehalten.


Kriegslogik

Wenn wir glauben, auf einen Krieg zuzugehen, bemühen wir uns, so langsam wie möglich böse zu werden, zumindest langsamer als der Feind, in der Hoffnung, dass der Feind das auch tut und der Krieg so vermieden werden kann. Der Beginn des Krieges ist der Moment, in dem wir uns entscheiden, dass er nicht mehr vermieden werden kann. Denn dann hat der, der zuerst eskaliert, der also schneller böser wird, ein höhere Chance zu gewinnen als sein Feind. Das ist fatal. Wenn es außer dem gewinnen müssen und nicht verlieren dürfen keine anderen Szenarien mehr gibt, muss man schneller böse werden als der Feind, um zu gewinnen. Wenn der Feind 1000 meiner Leute getötet hat, ist es nicht damit getan, auch 1000 von seinen Leuten zu töten, das wäre Zahn um Zahn, auch nicht 2000, nein, man muss so viele Feinde töten wie möglich, vielleicht Millionen, um den Feind in eine aussichtslose Lage zu bringen, in der er kapitulieren muss. Der 6-Tage Krieg begann damit, dass Israel auf einen Schlag die ägyptische Luftwaffe am Boden zerstört hat. Eigentlich ist noch jede Macht, die einen Krieg begann, mit einem Überraschungsschlag gestartet, gerne auch als False-Flag-Aktion. Beispiele: Hitlers Polen- und Frankreich-Feldzug, Tonkin, Pearl Harbour, die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Und die Gründe für das Ende eines Krieges sind sicher genauso interessant wie die Gründe für den Beginn. Der 2. Weltkrieg endete mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Als Pennäler las ich den Bericht eines Arztes, der drei Tage danach bis zum Krater vordrang. Vollkommen schockiert beschimpfte ich meinen Vater, den schwulen SS-Mann: „diese Wunderwaffe hätte euch also retten sollen?“ Sehr cool antwortete er, durch das sofortige Kriegsende wären schätzungsweise drei Millionen Menschen verschont worden. Da verstand ich, was Kriegslogik bedeutet.